Hintergrundinformation
"Der Fotoband 'Eternal Chase' von Tamiko NISHIMURA verfolgt den Puls vihrer auf den Straßen Tokios verbrachten Jugend. Die Bilder wurden gemacht, als sie zwischen 20 und 30 Jahre alt war - also etwa von 1970 bis 1983. Die meisten Aufnahmen entstanden auf der nördlichen Insel Hokkaido und der nordöstlichen Region Tohoku, aber ebenso auch über die Kanto hinaus (einschließlich ihrer Heimatstadt Tokio) in den Regionen Hokuriku und Kansai. 1970 war für Japan ein ereignisreiches Jahr: die Entführung eines JAL-Passagierflugzeugs durch die Rote Armee Fraktion, massive, landesweite Proteste gegen den amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrag 'AMPO', die Expo '70 in Osaka sowie der Mishima Yukio Seppuku Selbstmord in der Japan Self-Defense Force-Kaserne in Ichigaya." (frei übersetzt, © HIrashima Akihiko in 'The journey is the route' / Der Weg ist das Ziel)
In ihrem Nachwort verweist die Fotografin
auf transzendierende Grenzen, und was ist das Reisen, wenn nicht
grenzüberschreitend? Die Abgrenzungen mögen nicht einfach geografischer
Natur sein, sondern zwischen dieser Welt und der nächsten. Reisen
heißt, die Welt durch den Blick dahinter zu sehen. Fotografien geben uns
Hinweise, um uns durch die unsichere Gegenwart zu navigieren.
"Auf dem Foto vom Mt. Yotei (S.30 -31), durch das Fenster eines fahrenden Zugs der Station Kutchan auf Hokkaido, sehen wir über die Gleise hinweg eine Dampflok. Der Zug selbst mag Tamiko NISHIMURA zu jener Zeit nicht besonders interessiert haben, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit, die sie mit der Kamera auf sich zog - das zeigt der neugierige Blick des Lok-Führers. In der seit 1967 monatlich erscheinenden Zeitschrift 'Aruku Miru Kiku ('streifen, sehen, hören'), fasst der Volkskundler Miyamoto Taneichi in seinem Artikel 'Tabi ni Manabu' (= 'Lernen durch Reisen') seine Reise-Philosophie wie folgt zusammen: 'Wir reisen, um die Dinge zu entdecken. Es gibt wirklich keine andere Möglichkeit, als es selbst zu tun. Das Unbekannte mag noch wachsen, wenn wir die Dinge sehen, aber nur durch das Reisen können wir das Unbekannte überprüfen und klären.' Was für Ähnlichkeiten auch immer wir zwischen Miyamotos Philosophie und Tamiko NISHIMURAs fotografischen Streifzüge spüren mögen, in ihren Reisen ging es weder um das Entdecken Japans, noch um folkloristische Fragen, sondern eher um eine Wallfahrt zu einer vergangenen Ära und an spirituelle Orte. Es ist also eher eine persönlichen Suche, wie die des Dichters Basho auf seiner Haiku-Wanderschaft. Der bahnbrechende Volkskundler Kunio Yanagida, stellt in seinem Artikel 'Oshiragami Ko', die in älteren Haushalten Tohokus üblicherweise praktizierten Bräuche vor, dem spirituellen Geist nicht unähnlich, der als 'Oshinmei-Sama, Oshira-sama oder Okunai-sama bekannt geworden ist. 'Matronen dieser Familien, die den Oshinmei-sama Kult häufig anwenden, hören göttliche Eingebungen im Traum und gehen einmal jährlich auf Wanderschaft, eine hölzerne Statue auf ihren Schultern, um schwere Krankheiten zu vermeiden.' Tauschen Sie die belastende hölzerne Bildnis gegen eine Kamera und es wird ihnen nicht schwer fallen, die junge Fotografin als die letzte dieser vergessenen Frauen, die ihre von einem geheimnisvollen Geist beseelte Wanderschaften ausgesetzt haben.' Das japanische transitive Verb 'utsusu', welches 'zu fotografieren' heißen kann, bedeutete ursprünglich 'die Dinge von einem Ort zum anderen zu bewegen'. Es wandelte sich also, um auch die Wiedergabe von Farbe und Form aufnehmen zu können, um zu kopieren, zu emulieren. Es beinhaltet auch den wahr nehmenden Akt des Sehens. Ebenso das Verb 'miru' (見る), 'zu sehen', das vom chinesischen Schriftzeichen 'me' (目 = 'Auge' stammt, d.h. die Funktion, etwas mit den eigenen Augen fest zu halten. Im Japanischen bezieht sich das 'Sehen' nicht alleine darauf, etwas 'anzustarren', sondern deckt aus der Beobachtung heraus ein breites Spektrum an Bedeutungen ab, von der Beobachtung über das Wissen, das Beurteilen und auch die Sorge um etwas. In früheren Zeiten, so scheint es, waren Mann-Frau-Beziehungen auch eine Art von 'Sehen'.
Inhalt
Die Schwarz-weiß-Aufnahmen im Fotoband 'Eternal Chase' von Tamiko NISHIMURA sind nicht akribisch zusammengesetzt, im Fokus der Beobachtung stehen weder Personen noch Sachen. Komposition, die korrekte Belichtung oder exakte Brennweiten sind sekundär. Was stattdessen klar rüberkommt, ist direkte Tamiko NISHIMURAs Haltung gegenüber der Aufnahme; sie fängt ein, was ihr Auge wahr nimmt, ohne Zögern oder Positionierung. Ihre fotografische Methode ist weniger die subjektive Suche nach dem 'perfekten' Bild als vielmehr, dem ausgewählten Objekt zu überlassen, sich zu zeigen. Sie begibt sich in eine Art spiritueller Erwartung, dem Glauben an eine Lösung durch 'andere Kräfte'. Entgegen der dem Zufall geschuldeten Vergänglichkeit der Fotografien, erfordert deren Fixierung zeitraubende Mühe. Betrachtet man die 'Silber-Partikel-Sandstürme' auf Tamiko NISHIMURAs körnigen Bildern, ist leicht vorstellbar, dass sie ihre Filme bei hohen Temperaturen, langen Badezeiten oder anderen unorthodoxen Methoden entwickelt hat. Die tiefen Schwarztöne und kontrastierenden Weißtöne, Hand Shader-Techniken, zeugen von erheblichen Versuch und Irrtum. Auch Tamiko NISHIMURA muss ihre Benchmarks gehabt haben ähnlich den 'makura kotoba'-Sätzen von Bashos Haiku-Reiseberichten. Aber nur sehr wenige, in ihren Fotos gezeigt Ereignisse lassen sich geografisch zuordnen. Die meisten sind Gemeinplätze, jedoch von bestechender Ausdruckskraft.Statement der Fotografin, Tamiko NISHIMURA
"Als Studentin fotografierte ich 1968 die Untergrundtheatergruppe J'oukyou Gekijo', inzwischen legendär als 'Teatro de Situation'. Meine erste Arbeit, die ich machte, handelte von Yui Shousetsu, ich war wie gebannt von diesen enfants terribles der Bühne, Kara Juro, Maro Akaji und Yotsuya Simon. Fujiwara Maki performte das Straßenmädchen 'Miss Yozakura' - 'Kirschblüten der Nacht' - wie ausgegossene, schiere Präsenz. Ich konnte mir vorstellen, wie sie, von der Bühne herab, wieder durch in die völlige Dunkelheit zu einer Hütte am Flussufer in der Edo-Zeit entschlüpfte. Einmal, nachdem ich den Auslöser geklickt haben, jenseits des Suchers, schimpfte sie: 'Das ist keine Aufnahme; wenn Sie ein Bild von mir wollen, dann schleppen Sie sich besser hierher.' Als ob mich Yozakura warnte, dann und dort und nicht halbherzig zu fotografieren, andernfalls erhielte ich gar kein Bild von ihr. Nach dem Studium nahm ich Hilfsarbeiten und Gelegenheitsjobs bei Magazinen an. Ich unternahm jede Reise, wenn für einen Artikel Lohn heraus sprang - meistens ging ich nach Norden. Als Kind liebte ich es, auf unserem Tatami-Matte-Boden Dutzende von Postkarten, die mein Vater von seinen Geschäftsreisen nach Hause geschickt hatte, um mich herum auszubreiten. Ich wurde die Schneelandschaften und Festival-Szenen nicht überdrüssig. Ich habe immer noch eine Postkarte des Sendai Tanabata Festivals, 1954 abgestempelt. Wegen dieser gern gesehenen Bilder vielleicht, würde ich nach Hokkaido, Tohoku und Hokuriku fahren, um den Wechsel der Jahreszeiten zu fotografieren. Ich mag das Meer, so dass selbst bei Reisen ins Inland eine Route entlang der Küste plane. Von den Städten bevorzuge ich solche mit Meer und Bergen, wie Hakodate und Otaru oder - außerhalb des Nordens - Städte wie Kobe und Yokohama. Berühmte Touristenattraktionen haben auf mich nie eine Faszination ausgeübt, aber ich habe immer an Museen angehalten. Ich mochte besonders die Ainu Kostüme und Artefakte, die ich in einem kleinen ethnologischen Museum auf dem Mt. Hakodate gesehen habe; auch das Café auf halbem Weg den Hang hinauf. Anreise mit dem Nachtzug in Aomori, dann die Überfahrt mit der Fähre direkt nach Hakodate, um am frühen Nachmittag im Café zu sein. Ich kann mir das einströmende Sonnenlicht auch im schweren Schneegestöber gut vorstellen; der ideale Ausgangspunkt, um den Rest meiner Reise zu planen. 1947 eröffnet, war es zu meiner zweiten Heimat geworden. Als ich jedoch 1997 wieder Hakodate besuchte, sagte man mir, dass es mehrere Jahre zuvor geschlossen hatte. Ich fuhr auch mehr als einmal nach Tsugaru. Im Nachtzug von Ueno unterbrach ich jedes Mal die Lektüre von Dazai Osamus 'Tsugaru'. Vieles der Landschaft dort sieht aus, wie zu seiner Zeit. Als ich zum ersten Mal Tappi, sprangen mir seine Worte in den Sinn: 'Ich dachte, ich hätte versehentlich meinen Kopf in einen Hühnerstall gesteckt, aber nein, es war das Dorf Tappi.' Die Szenen vor meinen Augen passten perfekt zu den Beschreibungen. Jahre später, als ich die Landschaft Sesshu Haboku im Tokyo National Museum in Ueno sah, konnte ich nicht umhin, zu denken: 'Das ist Tappi.' Natürlich ist die berühmte Tuschemalerei eine Ansicht Chinas, aber mich erinnert das so sehr an Honshus nördlichstes Extrem: das einsame Gasthaus in den Bergen mit seinen Schnaps Banner winkt mir zu, als ich endlich an der Spitze des hohen Nordens ankomme, um ein warmes Sake zu nehmen .Wenn man alleine reist, beginnst Du, Dir Deine Fragen selbst zu beantworten. Es fühlt sich gut an, sorgenfrei und leichtsinnig zu sein. Oft fand ich mich wieder, Themenlieder für meine Resien vor mich hinsummend, aus irgendeinem Grund zumeist Enka Balladen. Mein Repertoire bestand aus Takakura Kens 'Karajishi Botan', Shinichi Moris 'Minatomachi Blues' oder anderen beliebten Songs wie 'Blue Light Yokohama' und Meiko Kajis 'Uramibushi'. Wenn ich heute darüber nachdenke, alle ziemlich dumm. In den frühen 1970er Jahren hatte jede Umgebung, die ich besuchte, eine Frische und ihren ganz eigenen Charme. Vielleicht aufgrund meiner Jugend, hatten diese Regionen außerhalb der Reichweite des Shinkansen 'Bullet Train' ihre eigene starke Präsenz, ohne städtisches Drum und Dran. Meine Bilder rückblickend betrachtend, denke ich nach über die Existenz der Fotografie, wie sie zu mir spricht, nach einer Ansammlungen von Lebenserfahrungen, unterbewussten Begegnungen, verlorenen Erinnerungen, meine Themen und die Momente, wo ich den Auslöser drückte, die Visionen, die Form erkannten, bevor ich es tat. Ich glaube aufgezeichnet zu haben, was jenseits der Begegnung zwischen Betrachter und Gesehenem liegt, im Bewusstsein demjenigen eine Form zu geben, das auseinander gefallen ist, gerade in dem Moment, wo es fotografiert worden ist. Vielleicht ist es auch der unbeschreiblichen Reiz des Verborgenen; in letzter Zeit, allerdings, erreichen mich die Gedanken nur sehr schwach. (© Tamiko NISHIMURA, 10. Sept. 2012 / Übers.: © Alfred Birnbaum)
Über die japanische Fotografin, Tamiko NISHIMURA (*1948 in Tokio)
Fotobücher von Tamiko NISHIMURA
- Hrsg./Autor(en)
- Hirashima Akihiko
- Format
- HC with dust jacket, 23 x 28 x 2 cm., 142 pp., b/w ills., bilingual text: Japanese & English