Hintergrundinformation, Nachruf auf Jerry BERNDT
"Jerry BERNDT (1943-2013) begann seine Karriere als Fotograf mit einer Kamikaze-Aktion: als die Universität von Madison in Wisconsin Mitte der 1960er Jahre einen Fotolaboranten sucht, meldet er sich für den Job. Innerhalb eines Jahres eignet sich der Autodiktat die fehlenden Kenntnisse an. Mit Hilfe der Bücher des amerikanischen Fotografen Ansel ADAMS lernt er fotografische Perfektion. Als die renommierte Harvard Universität 1967 für einen Feldversuch einen Fotografen sucht, ist Jerry BERNDT wieder zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Das sozial-psychiatrische Institut der Harvard Universität will die soziale und ökonomische Struktur der so genannten 'Combat Zone' untersuchen. Dieses Rotlicht-Viertel weist einige Besonderheiten auf: zumeist schwarze Zuhälter schicken junge weiße Frauen auf den Strich. Der weiße Mittelstandsfreier kann allerdings unbehelligt die Combat Zone betreten, obwohl Überfälle, Rivalitäten und Kämpfe zwischen schwarzen und weißen Gangs das Straßenbild prägen. Das Viertel am Bostoner Hafen ist eine urbane Kampfzone mit vielfältigen Implikationen. Ein Team aus Soziologen und Psychologen soll die Szene dokumentieren - Jerry BERNDT wird schnell zum Hauptakteur und bleibt in Boston auch dann noch, als der leitende Professor nach einem Jahr aufgibt und sich mit den gesamten Film- und Fotoaufnahmen aus dem Staub macht, und dokumentiert drei weitere Jahre lang die Combat Zone. Diese Arbeit ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch für sein fotografisches Vorgehen: Die direkte Konfrontation mit Gewalt, Prostitution, sozialer und urbaner Destruktion übersetzt er in Bilder, die jenseits einfacher Stereotypen ein komplexes Bild zeichnen: genau, atmosphärisch dicht, vielgestaltig. Jerry BERNDT wechselt je nach Situation die Position: einmal nahezu unsichtbar, dann wieder exponiert. Grobkörnige S/W-Aufnahmen aus Bars, Seiteneingängen und Hinterhöfen oder würdevolle Porträts markieren das Spektrum seines Vorgehens.
Jerry BERNDT wird auch zum umfassenden Chronisten des studentisches Protestes und der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung in den USA. Seit den frühen 1960er Jahren war er politischer Aktivist, organisierte Demonstrationen und illegale Aktionen. Eine Reise nach Kuba im Jahre 1969, während der er zusammen mit Fidel Castro Zuckerrohr schneidet (sic!), brachte ihm eine Verfolgung durch das FBI und ein zeitweiliges Berufsverbot ein. Erst durch einen Job als Zeitungsfotograf bei einer Zeitung aus Detroit ('The Newspaper') konnte er Anfang der 1970er Jahre wieder beruflich Fuß fassen. Durch die journalistische Arbeit in Detroit erweitert sich sein Oeuvre. Er fotografiert den amerikanischen Alltag, unprätentiös und präzise. Er zeigt Misswahlen, Kinderporträts, Einkaufszentren, Diners, Parkplätze, Arbeiter und Autos, Angehörige der Mittelschicht und die Bewohner des schwarzen und des weißen Ghettos. Anders als die meisten seiner Mitstreiter in der Studentenbewegung stammte der 1943 in Milwaukee geborene Fotograf nicht aus der Mittelschicht. Als Sohn polnisch-deutscher Einwanderer wuchs er unter schwierigen Bedingungen auf. 'Das Lesen habe ich beim Sortieren der Bierflaschen in der Bar meines Vaters gelernt', berichtete er. Früh verlässt Jerry BERNDT sein Elternhaus und geht eigene Wege. Sein Leitbild sind die Beatniks. Intellektuell wird er von den Schriften Paul Goodmans entscheidend beeinflusst. Schul- oder Universitätsabschluss bleiben ihm verwehrt. Wenn die authentische Erfahrung der Straße etwas zählt, dann konnte Jerry BERNDT diese für sich in Anspruch nehmen. Als Fotograf hat er die Zeit des aufblühenden Protestes, der Emanzipation und Kreativität, aber auch den allmählichen Niedergang der amerikanischen Gesellschaft, ausgelöst durch die Eskalation des Krieges in Vietnam und den Watergate-Skandal, durch politisches Misstrauen, anhaltende Diskriminierung und wirtschaftliche Krise, umfassend dokumentiert. Jerry BERNDT blieb sein Leben lang politisch engagiert und arbeitete erfolgreich als Fotojournalist: San Salvador (1984), Guatemala (1985), Haiti (1986-1991) und später dann die Kriege in Armenien (1993-94) und in Ruanda (2003-2004) markieren seine Risikobereitschaft und seine Fähigkeiten, als Fotograf weltweit zu arbeiten. In Kalifornien arbeitete er seit den 1990er Jahren an dem Werkkomplex 'The Act of Faith'. Trotz seiner immensen Produktivität ist das Werk von Jerry BERNDT lange weitgehend unbekannt. 2007 präsentierte eine Hamburger Galerie seine Arbeit erstmals in Deutschland. 2008/09 folgte die erste Retrospektive unter dem Titel 'Insight'." (für diese Beschreibung leicht angepasster Text, für den Originaltext gilt: © Maik Schlüter, 2013 in: 'Kamikaze und Konzept - Nachruf für Jerry Berndt')
Inhalt
Dieser Katalogband zur Ausstellung 'Insight' (Arbeiten daraus wurden unter dem Titel 'Streetwise' in den USA zusammen mit Fotografien von Diane ARBUS, Lee FRIEDLANDER, Robert FRANK und Garry WINOGRAND ausgestellt) zeigt das vielgestaltige Oeuvre von Jerry BERNDT als Fotograf, Filmer und Texter und wie er unermüdlich und scharfsinnig die Gesellschaft in ihrer Unbarmherzigkeit und Absurdität kritisiert. Die Serie Nite Works ist ein herausragendes Beispiel für seine Fähigkeit, Bilder von großer konzeptueller Qualität zu machen. Als 'Work in Progress' 1973 begonnen, zeigt die Serie menschenleere Nachtaufnahmen von Städten und Straßenzügen, die wie Filmsets die ganze Poesie und Beklemmung nächtlicher Isolation zum Ausdruck bringen. Mit seiner Tochter Emma schuf er über 10 Jahre hinweg einen anrührenden, analytischen Bilderzyklus über die Ausdrucksweisen kindlicher Imagination und lotete damit gleichzeitig die Möglichkeiten einer konzeptuell begründeten Bild-Text-Arbeit im Spannungsfeld von Dokument und Inszenierung aus.
Über den US-amerikanischen Fotografen, Jerry BERNDT (1943-2013)
Fotobücher von Jerry BERNDT
- Hrsg./Autor(en)
- Susanne Holschbach, Kathrin Peters
- Format
- HC with dust jacket, 28 x 24 x 2,5 cm., 245 pp., highly b/w illustrated, German / English