Hintergrundinformation
'Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld' ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Hans Peter FELDMANN, dem Kurator Hans Ulrich Obrist sowie dem Kunstraum der Universität Lüneburg. Der Band knüpft an die Ausstellung 'Interarchiv'von 1999 an, diese aber deutlich erweitert und das Material für den gewandelten Präsentationsrahmen das Buch als Ausstellungsraum eu bearbeitet hat. Das Künstlerbuch untersucht die Bedeutung von Archiven im zeitgenössischen Kunstfeld und dokumentiert die verschiedenen Formen der Auseinandersetzung mit dem Thema. Im Zentrum steht der aktuelle um archivarische Praktiken geführte Diskurs. Thema sind zum einen Funktionen und Möglichkeiten von Sammlungen, Museen und kulturellen Archiven unter den Bedingungen von Ökonomisierung, Globalisierung und virtuellen Medien; zum anderen sind es die Konstitution, die Arbeitsweisen und Potentiale von und in Erinnerungsprozessen.
Inhalt
Die dreiteilige Gliederung des Bandes 'Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld' in die Bereiche 'Annäherungen', 'Vernetzungen' und 'Perspektiven' spiegelt inhaltlich, strukturell und formal die wesentlichen, aktuellen Ansätze dieses Diskurses.
Teil 1 befasst sich mit Ordnungsprinzipien und umkreist aus unterschiedlichen Perspektiven Alternativen zu den gebräuchlichen Kategorisierungen in Museen, Bibliotheken oder Sammlungen. Die Annäherungsprozesse spiegeln sich hier auch räumlich in der Anordnung des Materials im Buch.
Teil 2 verfolgt mit zahlreichen Textbeiträgen von KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen eine Öffnung von archivierenden Prozessen. An die Stelle rückwärtsgewandter Behandlung treten hier Ansätze, die an der Aktualisierung und gegenwärtigen Nutzbarmachung von Erinnerung und Speichern arbeiten.
Teil 3 offeriert als ein ausgestelltes Archiv innerhalb eines Archivs - eine bislang einzigartige Zusammenstellung künstlerischer und kultureller Archive der letzten 25 Jahre vor 2002.
Vorwort zur Publikation 'Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld' (2002)
"Das Archiv - Einrichtung und Metapher gleichermaßen - hat zum Ende des 20. Jahrhundert besondere Bedeutung innerhalb kultureller Diskurse gewonnen. Zentrale gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Fragestellungen treffen in ihm aufeinander. Der in der Vergangenheit Orientierung für die Zukunft suchende Blick an der Jahrtausendwende kann die Hoffnungen und Spekulationen, die an die Speicher- und Verarbeitungsmöglichkeiten der digitalen Medien geknüpft werden, ebenso einbinden wie die Forschung zu Kapazität und Funktionsweisen des menschlichen Gedächtnisses. Die Anknüpfungspunkte für im Kunstfeld geführte Diskussionen sind vielfältig: Der Umgang mit Kultur als nationalem Erbe, die Musealisierung der Gesellschaft, die Rolle und Aufgaben von kulturellen Archiven im Zeitalter von Ökonomisierung und Globalisierung, die Funktion von Denk- und Mahnmälern im Zusammenhang mit Erinnerungsprozessen oder die sozialen und politischen Konsequenzen, die sich aus der digitalen Bildverarbeitung ergeben, zählen zu den in dem Zusammenhang meistverhandelten Aspekten.
Die vorliegende Publikation will mit Prozesshaftigkeit, Flexibilisierung und Öffnung vor allem solche Kriterien im Umgang mit Archiven in den Vordergrund rücken, die zu deren bewusster und mitgestaltender Teilhabe an der gesellschaftlichen Gegenwart und Zukunft beitragen. Dementsprechend liegt der Schwerpunkt auf den Praktiken der Erstellung und Handhabung von Archiven, durch die Informationssammlungen unterschiedlichen Formen von bedeutungsstiftenden Prozessen und Erzählweisen unterworfen werden können. Im Vergleich zu seiner alltagssprachlichen Bedeutung ist dabei der Begriff "Archiv" in einem möglichst weiten Sinne gefasst, als ein Ort, an dem sich, um mit Derrida zu sprechen, die Zeichen versammelt finden. Museen, Bibliotheken und Sammlungen aller Art sind damit ebenso angesprochen wie explizit als Archive bezeichnete Einrichtungen.
Geht man von Archiven als von Machtverhältnissen durchzogenen Orten aus, so sind zweierlei Ansprüche die Voraussetzung für die sich in ihnen manifestierenden Hierarchien: zum einen die Hoffnung auf ein Überleben der Gegenwart durch ihre Aufzeichnung und zum anderen das Streben nach größtmöglicher Vollständigkeit. In beiden Ansätzen schlagen sich universalisierende Denkmodelle nieder. Die resultierende Bindung an die Vergangenheit, an das Gewesene, und die Statik einer solchen Vorstellung vom Archiv erklären die Sehnsucht nach ihrer Zerstörung, die sich seit der Museumskritik der Avantgarde der 20er Jahre bis heute mit unterschiedlichen Zielsetzungen immer wieder artikuliert. Ausgeschlossen bleiben in dieser Vorstellung zudem nicht nur die konstitutive Kraft des Archivierens, die ihren Gegenstand in der Aufzeichnung erst hervorbringt, sondern auch Mehrstimmigkeit und Dynamik als Kennzeichen der Prozesse der Bedeutungskonstitution. Wenn es, wie in Interarchive, darum geht, in und durch Archive installierte Herrschaftsformen aufzulösen, gewinnen solche Aspekte an Bedeutung und mit ihnen Momente des Ungeordneten, Nicht-Abgeschlossenen und Ausgelassenen.
Die Publikation Interarchive stellt die Erweiterung eines Ausstellungsprojekts dar, das der Kunstraum der Universität Lüneburg in Zusammenarbeit mit dem Düsseldorfer Künstler Hans-Peter Feldmann und dem Kurator Hans Ulrich Obrist entwickelte. Es hatte seinen Anfang genommen mit dem Transport von über 1 000 Boxen von St. Gallen nach Lüneburg. In ihnen befanden sich Materialien zur Kunst der 90er Jahre, die Obrist im Rahmen seiner internationalen kuratorischen Tätigkeit zusammengetragen hatte und die der Universität als Leihgabe überlassen werden sollten. Neben Büchern, Katalogen, Einladungskarten und Pressetexten befanden sich darunter auch handschriftliche Korrespondenzen sowie in unterschiedlicher Weise auf diese Korrespondenz bezogene Objekte. Die Fragen nach der Nutzung, Ordnung und Zugänglichkeit des Archivs, die sich nach dessen Ankunft auf dem Campus stellten, waren Auslöser, um es fortan weniger als Forschungsquelle denn als exemplarischen Forschungsgegenstand zu behandeln. Die Materialsammlung diente als Beispiel, die Funktionen von Archiven und die in ihnen herrschenden Verhältnisse zu untersuchen und alternative Umgangsformen zu erproben.
Mit der Ausstellung 'Interarchiv' knüpfte der Kunstraum der Universität 1999 in gewisser Weise an eine frühere Projektarbeit an: Für die in Zusammenarbeit mit Christian Boltanski entwickelte Recherche "Die Archive der Großeltern", an der ebenfalls Hans Ulrich Obrist beteiligt war und die 1996 präsentiert wurde, hatten die ProjektteilnehmerInnen ihre Großeltern nach deren Jugend, vor allem nach der Zeit zwischen 1933 und 1945 befragt und Material dazu zusammengetragen. Sowohl Fragen nach den in und für Materialsammlungen Verantwortlichen als auch nach der Gegenwartsbezogenheit des Archivierten erhielten in dem Zusammenhang besonderes Gewicht und flossen - als Gegenentwürfe - in die Bearbeitung des Archivs von Obrist mit ein.
Die Transformation der Ausstellung in das Buchformat bedeutete eine neuerliche Erweiterung. Sie bildet die unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung mit archivarischen Praktiken ab, reflektiert sie und setzt sie zugleich auch um. Wie im Titel vorgegeben, rückt Interarchive einen "Zwischen"- Raum in sein Zentrum, der an das Archiv angrenzt und ihn mit anderen Räumen verbindet: Den umgebenden Raum der örtlichen und funktionalen Voraussetzungen, die sich durch die "Annäherungen" abtasten lassen; den Raum zwischen den Informationen und zwischen ihren Trägern, den die "Perspektiven" nutzbar machen; und den Raum zwischen den Archiven und archivarischen Praktiken, der sich in den "Vernetzungen" zu einem neuen Archiv zusammensetzt.
Der erste Teil 'Annäherungen' dokumentiert diejenigen Verfahren, die für die Ausstellung zum Einsatz gebracht wurden, um die konventionellen Prinzipien der Ordnung außer Kraft zusetzen. Anstatt das in den Boxen aufbewahrte Material den bibliothekarischen Ansprüchen gemäß alphabetisch nach Autor und Thema in Reihe zu bringen, anstatt also einen Zugang zu ermöglichen, der ebenso wie die Nutzung des Gesammelten allein auf das Textuelle konzentriert ist, erlangten andere Kriterien Bedeutung: Geruch, Gewicht, physischer Erhaltungszustand, optische und haptische Oberflächenbeschaffenheit, quantitative und farbharmonische Verhältnisse der in einer Box versammelten Objekte. Nicht das Aufgezeichnete selbst ist entscheidend, sondern die Verfahren der Annäherung, über den Standort, die Lagerungsform und den Träger. Aus der Annahme eines Zustands vor der Kategorisierung, eines Status des Ungeordneten, öffnet sich ein stichprobenartig ausgelotetes Potential alternativer Bedeutungszusammenhänge.
Der zweite Teil 'Perspektiven' entwickelt auf theoretischer Ebene die Fragen nach Partizipation, Flexibilisierung und Prozessualität in unterschiedlichen disziplinären Bezugsrahmen weiter. Für sie besitzen die in Archiven zusammengestellten Informationen vergleichsweise geringe Bedeutung, geht es doch vor allem um die Bedingungen ihrer Sichtbarkeit: Aus künstlerischer, museologischer, architekturtheoretischer, medienarchäologischer, soziologischer, kunsthistorischer, bildwissenschaftlicher, juristischer und philosophischer Perspektive verfolgen die Beiträge das im Archiv Abwesende, Fehlende oder Verborgene. Nicht das Überleben der archivierten Informationen, sondern ihr Gegenwartsbezug wird vor der Folie einer Politik des Zeigens und Sichtbarmachens, ihrer Ziele und eingesetzten Techniken verhandelt.
Über 60 Positionen zeitgenössischer archivarischer Praxis im Kunstfeld stellt der dritte Teil "Vernetzungen" vor. Durch die - vorsätzlich subjektive - Reihenfolge, in der sie im Buch gruppiert sind, ebenso wie durch die hier angebotenen Ordnungskriterien zeichnet sich ein Netz von Bezügen zwischen den einzelnen Praktiken ab, das Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Zusammenstellung von Archiven und im Umgang mit archivierten Materialien deutlich werden lässt. Über die Aktualität archivarischer Verfahrensweisen hinaus belegt die große Zahl der vorgestellten Positionen nicht zuletzt die Vielfalt experimenteller Befragung der an die Funktion des Archivischen geknüpften Konventionen und Normen." (Quelle: http://www.uni-lueneburg.de/fb3/kunst/kunstraum/texte/iarchive.html)
Zusatzinformation
Der Künstlerband 'Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld' wurde herausgegeben von Beatrice von Bismarck, Hans-Peter FELDMANN, Hans-Ulrich Obrist, Diethelm Stoller sowie von Ulf Wuggenig. Das künstlerisches Konzept stammt von Hans-Peter FELDMANN.
Die im Band mit ihren Arbeiten vertretenen Künstlerinnen* sind
Franz Ackermann, Elisabeth Arkhipoff, Julie Ault, Bart De Baere, Vittore Baroni, bildwechsel e.v., Beatrice von Bismarck, Waling Boers, Jan Böttcher, Lionel Bovier, Beatrix Brandes, Christophe Cherix, Thorsten Clauszen, Beatriz Colomina, Neil Cummings, Cãlin Dan, Iris Därmann, Chris Dercon, Michael Diers, dokumenta Archiv, Sabine Dreher, Arnold Dreyblatt, Céline Duval, Sonja Eichele, Volker Eichelmann, Maria Eichhorn, Annika Eriksson, Wolfgang Ernst, Jonathan Faiers, Arlette Farge, Hans-Peter FELDMANN, Robert Fleck, Andrea Fraser, Anne Frémy, György Galántai, Fabrizio Gallanti, Paul-Armand Gette, GILBERT & GEORGE, RoseLee Goldberg, Kirby Gookin, Renée Green, Joseph Grigely, Eiko Grimberg, Johan Grimonprez, Marina Grzinic, Bärbel Hartje, Jens Hartwig, Jean-Noël Herlin, Anika Heusermann, Patricia Holder, Tom Holert, Tina Kaiser, Michael Katchen, Christoph Keller, Peter Kerschgens, Josif Kiraly, Júlia Klaniczay, Jan Knikker, Andrea Knobloch, Inga Koehler, Kasper König, Koo Jeong-a, Ulrike Kremeier, Jan Lackner, John Latham, Anton Lederer, Marysia Lewandowska, Thorsten Liesegang, Armin LINKE, Ken Lum, Margarethe Macovec, Gesine Märkel, Pierangelo Maset, Kobe Matthys, Shaheen Merali, Charles Merewether, Ariede Migliavacca, Nina Möntmann, Maurizio Nannucci, Olaf NICOLAI, Carsten Nicolai, Jean Pierre Nouet, Hans Ulrich Obrist, Georges Perec, Peter PILLER, Lisl Ponger, Karin Prätorius, Catherine Quéloz, Walid RA´AD, Lioba Reddeker, José Roca, Irit Rogoff, Roland Rust, Bart Rutten, Hilmar Schäfer, Ulrich Schötker, Nicol Schwaderer, Sarah Shneiderman, Judy Freya Sibayan, Sean Snyder, Erik Steinbrecher, Barbara Steveni, Diethelm Stoller, Harald Szeemann, Detlef Thiel, Tjebbe van Tijen, Mark Tribe, Mark Turin, Anthony Vidler, Anton Vidokle, Cornelia Vismann, Madelon Vriesendorp, Martin Warnke, Carmen Wedemeyer, Wanda Wieczorek, Jan Kristian Wiemann, Paul Willemsen, Martha Wilson, Ulf Wuggenig, Lydia Zimmer, Heike Zollondz.
Fotobücher der im Band vertrenen Künstlerinnen*
Hans-Peter FELDMANN, GILBERT & GEORGE, Armin LINKE, Olaf NICOLAI, Peter PILLER, Walid RA´AD