"Die fotografische Sequenz des amerikanischen Fotografen Duane MICHALS stammt aus dem Jahr 1973. 'Things are queer', also 'Die Dinge sind sonderbar', scheint ein sehr geeigneter Titel für die vorliegende Bildsequenz zu sein, denn beim ersten Betrachten ist nicht gleich ersichtlich, was eigentlich Thema dieser Arbeit sein könnte. Dennoch ist diese eigenartige Bildlogik faszinierend, denn sie wirkt wie ein Strudel, der einen von Bild zu Bild, immer weiter in eine Schichtung von Zusammenhängen zieht.
Tatsächlich scheint zwar das erste und letzte Bild genau das selbe zu sein, aber durch das Betrachten der vorangehenden Bilder und die Schichtung von Informationen, die jedes Bild preisgibt und die dem vorhergehenden Bild stets zu widersprechen scheinen, ist doch das letzte Bild eigentlich ein völlig anderes, als das erste.
Meint man im ersten Bild ein Badezimmer erkannt zu haben, so stellt sich einem im zweiten Bild schon die Frage, ob nun das Bein, oder das Bade-zimmer von ungewöhnlicher Größe ist.
Hat man dann im dritten Bild erkannt, dass der Mann in einem Schaufenster zu stehen scheint, muss man im vierten Bild wiederum erkennen, dass es sich nur um eine Seite in einem Buch handelt usw. Michel FOUCAULT bemerkte, dass MICHALS' Fotosequenz eine 'obskure Zirkulation' (Foucault, 1982, S.114) entfalte und Steffen SIEGEL erklärt, dass in 'Things are queer' jede Enthüllung gleichzeitig eine Einhüllung ist (vgl. Siegel, 2013, S.134ff).
Jedes Bild, wird im nächsten Schritt durch das dazugehörige Außen, das durch die scheinbare Kamerafahrt aufgedeckt wird, bestimmt und wird im nächsten Schritt seinerseits zu einem Außen des nächsten Bildes (vgl. ebd.). Das letzte Bild ist in diesem Verlauf, den FOUCAULT mit einer 'Ironie der Reihenfolge' (Foucault, 1982, S.114) beschreibt, demnach gleichzeitig das Innerste und das Äußerste (vgl. Siegel, 2013, S.134ff).
„Michals‘ virtuelle Kamerafahrt, die durch die Veränderung der Einstellungen eine fundamentale Neuordnung des Darstellungs- und Interpretationsrahmens bewirkt, folgt hierbei sowohl im metaphorischen als auch im wortwörtlichen Sinn einer Struktur des Coming-Out.“ (Siegel, 2013, S.134ff).
So werden zum einen die Seherfahrungen des Betrachters ausgelotet, beinahe ausgetrickst, und zum anderen wird sich hier mit einem sehr persönlichen Thema, dem des Coming-Out, beschäftigt.
Barry M. DANK beschreibt in einem Artikel in der 34. Ausgabe der Zeitschrift Psychiatry, aus dem Jahr 1971, dass die Entwicklung einer homosexuellen Identität von den Bedeutungen abhängt, die jemand mit Homosexualität ver-knüpft; diese Bedeutungen wiederum stünden im direkten Zusammenhang mit den Bedeutungen, die im nahen Umfeld desjenigen verfügbar seien (vgl. Dank, 1971, S.75). Die Bedeutungen in seinem nahen Umfeld würden wiederum durch die Diskurse in der weiter gefassten Gesellschaft geprägt (vgl. ebd.).
Auch hier ist eine Veränderung der Einstellung, nämlich der Einstellung zur Homosexualität, in einer ganz ähnlichen Form, wie die Anordnung von MICHALS‘ Fotografien, beschrieben.
DANK erklärt, wie durch eine veränderte – diesmal persönliche – Einstellung, eine Neuordnung eines Interpretationsrahmens bewirkt wird. Er beschreibt in dieser Studie weiterhin, dass eine Person, die sich selbst als homosexuell betrachtet, dies erst in einem solchen sozialen Kontext kann, in dem Wissen über Homosexualität gegeben ist (vgl. ebd., S.180). Durch dieses Wissen werde es ihm ermöglicht, sich selbst als homosexuell zu identifizieren.
Dieselbe Erfahrung scheint auch MICHALS in dieser Fotoserie darzustellen, denn er beschreibt in einem Interview mit der Philadelphia Weekly, dass er selbst in seiner Heimatstadt McKeesport in Pensylvania keine Bezüge zur Homosexualität fand, er sagt sogar, dass er das Wort 'gay' nie zuvor gehört habe (vgl. Murtha, 2008).
„I came from McKeesport not knowing anything and figuring it out as I went along. The great trip of live is evolving, changing, learning and letting go. It never comes to an end.“ (Duane MICHALS, zitiert in: Murtha, 2008).
MICHALS, der von sich selber sagt, dass er einen Weg erfinden musste, um seine Ideen auszudrücken (vgl. Murtha, 2008), hat diese Idee, dass Prozesse, wie das Coming-Out niemals zu einem Ende kommen, möglicherweise durch die Zirkularität in 'Things are queer' zum Ausdruck gebracht. Zunächst wird mit jeder Fotografie, die vorhergehende in einen neuen Kontext gesetzt, so weist uns jede der Fotografien auch auf unseren, bis dahin eingeschränkten Wissenshorizont hin, denn bei jedem Bildwechsel wird uns etwas über die vorhergehende Fotografie gezeigt, das wir zuvor nicht wissen konnten. So schichtet sich das Wissen über diese Bildlogik bis hin zur letzten Fotografie. Jede Fotografie hat demnach etwas Verborgenes in sich, das erst im nächsten Foto aufgedeckt wird.
MICHALS nutzt die Fotografie, das Medium das wohl am ehesten zur Repräsentation des Sichtbaren prädestiniert zu sein scheint, um das Nicht-Sichtbare, nämlich seine innere Realität zu reflektieren (vgl. Ehmke, 2003, S.63).
Dabei verlangt er mehr von der Fotografie als gemeinhin für Fotografen üblich ist und hat den Drang die fotografischen Möglichkeiten auszuloten, um den lebendigsten Ausdruck für seine Ideen zu finden (vgl. ebd. S.65).
Ein Foto allein sei dazu mitunter nicht in der Lage, daher nutzt MICHALS nicht nur in 'Things are queer', sondern auch in den meisten seiner anderen Arbeiten, die Zusammensetzung von Fotosequenzen, die er selbst als Fotostorys bezeichnet (vgl. ebd.).
Ein weiteres Charakteristikum für MICHALS‘ Drang seine Ideen bestmöglich auszudrücken, ist möglicherweise seine Kombination von Schrift und Bild. Mit dieser eigenartigen Zirkularität in 'Things are queer' löst MICHALS klassisch-lineare Erzählmuster auf und lotet die Grenze zwischen Narrativem und Nicht-Narrativem aus, indem keine Veränderung des Zustands fotografisch festhalten wird, sondern vielmehr mit jedem Bild ein wenig mehr aus dem Off gezeigt wird (vgl. Reiche, 2013, S.1).
Hierbei wird eine Linearität durch das scheinbare Zurückweichen der Kamera, suggeriert, die nicht vorhanden ist (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu üblichen Erzählstrukturen ergibt sich hier also eine Schleife, ein Kreislauf „aus dem es kein Entrinnen gibt“ (ebd.).
Als einen ebensolchen Kreislauf könnte man auch MICHALS zuvor erwähnte Äußerung zum Akt des Coming-Out begreifen.
Der Begriff Coming-Out selbst, scheint auch Teil dieser Fotoarbeit zu sein, denn Coming-Out leitet sich von der Redewendung 'to come out of the closet' ab, was soviel bedeutet wie, aus einer kleinen Kammer/ Kleiderschrank/ Toilette hervor zu treten. Der Begriff closet kann mehrdeutig verstanden werden. Eve KOSOFSKI SEDGEWICK beschreibt in ihrem Buch Epistemology of the closet (1990), dass das closet eine epimistologische Figur unausgesprochener Homosexualität sei (vgl. Sedgewick, 1990, S.205).
So scheint auch der Werktitel beiden Bedeutungen des Wortes queer, was sonderbar aber auch homosexuell bedeuten kann, gerecht zu werden.
SIEGEL weist darauf hin, dass der Raum in Duane MICHALS‘ fotografischer Sequenz sich mit jedem Schritt zugleich öffne und wieder abschließe (vgl. Siegel, 2012), denn obwohl man mit jedem Schritt etwas mehr über das vorherige Bild erfahren hat, ist man schon im Unwissen darüber, was der Schritt zum nächsten Bild aufdecken wird. Ähnlich beschreibt SIEGEL auch die Logik des Coming-Out, in dem auf er die Unklarheit der Situation nach dem öffentlichen Preisgeben der eigenen Homosexualität verweist.
SEDGEWICK beschreibt diesen Umstand folgendermaßen: "Every encounter with a new classful of students, to say nothing of a new boss, social worker, loan officer, landlord, doctor, erects new closets whose fraught and characteristic laws of optics and physics exact from at least gay people new surveys, new calculations, new draughts and requisitions of secrecy or disclosure. Even an out gay person deals daily with interlocutors about whom she doesn’t know whether they know or not(…)“1 (Sedgewick, 1990, S.68).
So wird in 'Things are queer' offenbar auf unterschiedlichen Ebenen das Thema des Coming-Out behandelt und dies auf solch subtile Art und Weise, dass es beim ersten Betrachten zunächst nicht offenbart wird.
„I don’t do my work for a kind of immortality, a record. I do it as a way to understand my experience – always for myself.“ (Duane MICHALS)
Duane MICHALS behauptet in einem Interview mit Tara MURTHA, dass er in seiner Fotokunst einen Weg gesucht hat, seine eigenen Ideen auszudrücken (vgl. Murtha, 2008). Geht man von FOUCAULTs These aus, dass es keine autonomen Subjekte gebe, müsse man diese Aussage MiICHALS‘ zunächst in Frage stellen und darauf hinweisen, dass auch seine Ideen einer bestimmten diskursiven Ordnung zugrunde liegen.
Seit den 1970er Jahren, also im gleichen Zeitraum wie die Veröffentlichung von 'Things are queer', haben ForscherInnen begonnen Coming-Out-Prozesse als wissenschaftliches Thema zu untersuchen (vgl. Wolf, 2008).
Der Begriff des Coming-Out als ein Öffentlich-Machen der eigenen schwulen oder lesbischen Identität hat sich Ende der 1960er Jahre etabliert (vgl. ebd.). Zwar gab es schon zuvor Männer, die Männer liebten und Frauen, die Frauen liebten, aber das Coming-Out als politischer Akt zur Abgrenzung gegen die Heterosexualität und -normativität ist erst in diesem Zeitraum aufgetreten (vgl. Wolf, 2008). In diesen Forschungen wurde das Coming-Out als prozesshaft beschrieben (vgl. ebd.). Das Coming-Out umfasst demnach den gesamten Bereich vom ersten Bemerken eines Begehrens des gleichen Geschlechts bis zum Öffentlich-Machen der eigenen Homosexualität und dem Ausleben dieser sozio-sexuellen Identität (vgl. ebd.).
Es wurde hier deutlich als prozesshaftes, nicht-lineares Geschehen beschrieben, in dessen Verlauf sich die entsprechenden Personen immer wieder für oder gegen ein offenes Ausleben oder ein Geheimhalten der eigenen Homosexualität entscheiden müssen (vgl. ebd.).
Diese Thematik ist mit dem zirkulären Aufbau in Duane MICHALS‘ 'Things are queer' zu vergleichen, der zwar eine Linearität zunächst vermuten lässt, im letzten Bild jedoch zugleich wieder am Anfang der Fotosequenz angelangt ist, demnach also eine Art Schleife oder Kreislauf darstellt. Diese Darstellung stimmt daher mit den Aussagen der Forschungen zum Coming-Out überein, die von Judith BUTLER aufgegriffen wurden. Sie beschreibt das Coming-Out als ein sich ständig wiederholender Akt, durch den Irritationen der Geschlechter-Identitäten sichtbar werden, da mit jedem Bekenntnis zur Homosexualität andere Begehrensformen ausgeschlossen werden.
Der Titel 'Things are queer' könnte sowohl als persönliches Coming-Out, also als Bekenntnis zur eigenen Homosexualität, oder als Kritik an der Heteronormativität verstanden werden. Der Wechsel der Schauplätze in der Serie, vom Badezimmer zum Schaufenster, vom Schaufenster zum Inneren eines Buches, vom Inneren eines Buches zu einem Tunnel, von einem Tunnel zu einer Fotografie und damit wieder in das Innere des Badezimmer könnte den vorher beschriebenen Prozess des Coming-Out als immer wiederkehrende Entscheidung für ein Geheimhalten oder Öffentlich-Machen der eigenen Sexualität darstellen.
Das Badezimmer und das Innere des Buches könnten dabei auf das Geheimhalten und gleichzeitig die Innerlichkeit einer Person hinweisen, das Schaufenster und das Bild wiederum symbolisieren wohlmöglich ein Öffentlich-Machen oder zur Schau stellen.
Geht man von Judith BUTLERs These aus, dass Geschlecht sich performativ aus kulturellen Praktiken ergebe und offen für neue Eingriffe und neue Bedeutungen sei, könne man Kunstwerke wie 'Things are queer' als möglichen Beitrag zu einer Verschiebung von Bedeutungen begreifen, zum Beispiel auch durch das Offenlegen eines in der Gesellschaft verdrängten homosexuellen Begehrens. Insgesamt werfen die beschriebenen Ähnlichkeiten zwischen Kunstwerk und wissenschaftlichem Diskurs die Frage auf, ob MICHALS von dem besagten Diskurs Anfang der 1970er Jahre beeinflusst war, als er 'Things are queer' erarbeitete, ob umgekehrt der wissenschaftliche Diskurs von gesellschaftlichen und künstlerischen Themen beeinflusst war oder aber, ob beides in Wechselwirkung zueinander erfolgte. Die letzte Möglichkeit erscheint hierbei am wahrscheinlichsten." (aus: FOTOGRAFIE UND GENDER: DUANE MICHALS „THINGS ARE QUEER“, 14. März 2016, Quelle: https://kulturundmedien.wordpress.com/2016/03/14/fotografie-und-gender-duane-michals-things-are-queer/)
Dort verwendete Literatur:
Dank, Barry M. (1971): Coming-Out in the Gay World. In: Psychiatry. Vol.34. May 1971. unter: http://www.williamapercy.com/wiki/images/Coming_out_in_the_gay_world.pdf (Stand: 09.07.2013)
Ehmke, Jochen (2003): Duane Michals – Fotograf des Imaginären. In: Maria Nühlen (Hrsg.). Die Geister, die ich rief... - vom Merseburger Zauber-Geist bis zu den Google-Geistern des Internets. Merseburger Ringvorlesungen Bd.4. Merseburg: Fachhochschule Merseburg Prerektorat für Studium und Lehre. S.62-64
Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Berlin: Suhrkamp
Foucault, Michel (1982): Denken, Fühlen. In: Michel Foucault. Schriften zur Medientheorie. Bernhard J. Dotzler (Hrsg.) Berlin: Suhrkamp. S.108-116
Murtha, Tara (2008): Equality Forum. Photographer Duane Michals discusses his gay-themed work. in: Philadelphia Weekly. 30.4.2008. unter:http://www.philadelphiaweekly.com/news-and-opinion/38467469.htmlpage=2&comments=1&showAll (Stand: 13.07.2013)
Reiche, Ruth (2013): Die seltsame Schleife als (Bild-)Erzählform – Paradoxe Zirkularität in Duane Michals Things are queer und David Lynchs Lost Highway. In: Bild Wissen Technik/Die Grenzen der Narration im Bild. Kunsttexte.de 1/2013. unter: http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2013-1/reiche-ruth-6/PDF/reiche.pdf (Stand: 08.07.2013)
Segdewick, Eve K. (1990): Epistemology of the closet. Berkly und Los Angeles: University of California Press
Siegel, Steffen (2013): Ironie der Reihenfolge. Enthüllung als Einhüllung bei Duane Michals. In: Susanne Regener, Katrin Köppert (Hrsg.): Privat/öffentlich. Mediale Selbstentwürfe von Homosexualität. Wien: Turia und Kant Verlag. S.131-154
Wolf, Gisela (2008): Entwicklungsprozesse homosexueller Identitäten. unter: http://www.vlsp.de/system/files/Entwicklung-homo-Identitaet_0.pdf (Stand: 14.07.2013)
Tatsächlich scheint zwar das erste und letzte Bild genau das selbe zu sein, aber durch das Betrachten der vorangehenden Bilder und die Schichtung von Informationen, die jedes Bild preisgibt und die dem vorhergehenden Bild stets zu widersprechen scheinen, ist doch das letzte Bild eigentlich ein völlig anderes, als das erste.
Meint man im ersten Bild ein Badezimmer erkannt zu haben, so stellt sich einem im zweiten Bild schon die Frage, ob nun das Bein, oder das Bade-zimmer von ungewöhnlicher Größe ist.
Hat man dann im dritten Bild erkannt, dass der Mann in einem Schaufenster zu stehen scheint, muss man im vierten Bild wiederum erkennen, dass es sich nur um eine Seite in einem Buch handelt usw. Michel FOUCAULT bemerkte, dass MICHALS' Fotosequenz eine 'obskure Zirkulation' (Foucault, 1982, S.114) entfalte und Steffen SIEGEL erklärt, dass in 'Things are queer' jede Enthüllung gleichzeitig eine Einhüllung ist (vgl. Siegel, 2013, S.134ff).
Jedes Bild, wird im nächsten Schritt durch das dazugehörige Außen, das durch die scheinbare Kamerafahrt aufgedeckt wird, bestimmt und wird im nächsten Schritt seinerseits zu einem Außen des nächsten Bildes (vgl. ebd.). Das letzte Bild ist in diesem Verlauf, den FOUCAULT mit einer 'Ironie der Reihenfolge' (Foucault, 1982, S.114) beschreibt, demnach gleichzeitig das Innerste und das Äußerste (vgl. Siegel, 2013, S.134ff).
„Michals‘ virtuelle Kamerafahrt, die durch die Veränderung der Einstellungen eine fundamentale Neuordnung des Darstellungs- und Interpretationsrahmens bewirkt, folgt hierbei sowohl im metaphorischen als auch im wortwörtlichen Sinn einer Struktur des Coming-Out.“ (Siegel, 2013, S.134ff).
So werden zum einen die Seherfahrungen des Betrachters ausgelotet, beinahe ausgetrickst, und zum anderen wird sich hier mit einem sehr persönlichen Thema, dem des Coming-Out, beschäftigt.
Barry M. DANK beschreibt in einem Artikel in der 34. Ausgabe der Zeitschrift Psychiatry, aus dem Jahr 1971, dass die Entwicklung einer homosexuellen Identität von den Bedeutungen abhängt, die jemand mit Homosexualität ver-knüpft; diese Bedeutungen wiederum stünden im direkten Zusammenhang mit den Bedeutungen, die im nahen Umfeld desjenigen verfügbar seien (vgl. Dank, 1971, S.75). Die Bedeutungen in seinem nahen Umfeld würden wiederum durch die Diskurse in der weiter gefassten Gesellschaft geprägt (vgl. ebd.).
Auch hier ist eine Veränderung der Einstellung, nämlich der Einstellung zur Homosexualität, in einer ganz ähnlichen Form, wie die Anordnung von MICHALS‘ Fotografien, beschrieben.
DANK erklärt, wie durch eine veränderte – diesmal persönliche – Einstellung, eine Neuordnung eines Interpretationsrahmens bewirkt wird. Er beschreibt in dieser Studie weiterhin, dass eine Person, die sich selbst als homosexuell betrachtet, dies erst in einem solchen sozialen Kontext kann, in dem Wissen über Homosexualität gegeben ist (vgl. ebd., S.180). Durch dieses Wissen werde es ihm ermöglicht, sich selbst als homosexuell zu identifizieren.
Dieselbe Erfahrung scheint auch MICHALS in dieser Fotoserie darzustellen, denn er beschreibt in einem Interview mit der Philadelphia Weekly, dass er selbst in seiner Heimatstadt McKeesport in Pensylvania keine Bezüge zur Homosexualität fand, er sagt sogar, dass er das Wort 'gay' nie zuvor gehört habe (vgl. Murtha, 2008).
„I came from McKeesport not knowing anything and figuring it out as I went along. The great trip of live is evolving, changing, learning and letting go. It never comes to an end.“ (Duane MICHALS, zitiert in: Murtha, 2008).
MICHALS, der von sich selber sagt, dass er einen Weg erfinden musste, um seine Ideen auszudrücken (vgl. Murtha, 2008), hat diese Idee, dass Prozesse, wie das Coming-Out niemals zu einem Ende kommen, möglicherweise durch die Zirkularität in 'Things are queer' zum Ausdruck gebracht. Zunächst wird mit jeder Fotografie, die vorhergehende in einen neuen Kontext gesetzt, so weist uns jede der Fotografien auch auf unseren, bis dahin eingeschränkten Wissenshorizont hin, denn bei jedem Bildwechsel wird uns etwas über die vorhergehende Fotografie gezeigt, das wir zuvor nicht wissen konnten. So schichtet sich das Wissen über diese Bildlogik bis hin zur letzten Fotografie. Jede Fotografie hat demnach etwas Verborgenes in sich, das erst im nächsten Foto aufgedeckt wird.
MICHALS nutzt die Fotografie, das Medium das wohl am ehesten zur Repräsentation des Sichtbaren prädestiniert zu sein scheint, um das Nicht-Sichtbare, nämlich seine innere Realität zu reflektieren (vgl. Ehmke, 2003, S.63).
Dabei verlangt er mehr von der Fotografie als gemeinhin für Fotografen üblich ist und hat den Drang die fotografischen Möglichkeiten auszuloten, um den lebendigsten Ausdruck für seine Ideen zu finden (vgl. ebd. S.65).
Ein Foto allein sei dazu mitunter nicht in der Lage, daher nutzt MICHALS nicht nur in 'Things are queer', sondern auch in den meisten seiner anderen Arbeiten, die Zusammensetzung von Fotosequenzen, die er selbst als Fotostorys bezeichnet (vgl. ebd.).
Ein weiteres Charakteristikum für MICHALS‘ Drang seine Ideen bestmöglich auszudrücken, ist möglicherweise seine Kombination von Schrift und Bild. Mit dieser eigenartigen Zirkularität in 'Things are queer' löst MICHALS klassisch-lineare Erzählmuster auf und lotet die Grenze zwischen Narrativem und Nicht-Narrativem aus, indem keine Veränderung des Zustands fotografisch festhalten wird, sondern vielmehr mit jedem Bild ein wenig mehr aus dem Off gezeigt wird (vgl. Reiche, 2013, S.1).
Hierbei wird eine Linearität durch das scheinbare Zurückweichen der Kamera, suggeriert, die nicht vorhanden ist (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu üblichen Erzählstrukturen ergibt sich hier also eine Schleife, ein Kreislauf „aus dem es kein Entrinnen gibt“ (ebd.).
Als einen ebensolchen Kreislauf könnte man auch MICHALS zuvor erwähnte Äußerung zum Akt des Coming-Out begreifen.
Der Begriff Coming-Out selbst, scheint auch Teil dieser Fotoarbeit zu sein, denn Coming-Out leitet sich von der Redewendung 'to come out of the closet' ab, was soviel bedeutet wie, aus einer kleinen Kammer/ Kleiderschrank/ Toilette hervor zu treten. Der Begriff closet kann mehrdeutig verstanden werden. Eve KOSOFSKI SEDGEWICK beschreibt in ihrem Buch Epistemology of the closet (1990), dass das closet eine epimistologische Figur unausgesprochener Homosexualität sei (vgl. Sedgewick, 1990, S.205).
So scheint auch der Werktitel beiden Bedeutungen des Wortes queer, was sonderbar aber auch homosexuell bedeuten kann, gerecht zu werden.
SIEGEL weist darauf hin, dass der Raum in Duane MICHALS‘ fotografischer Sequenz sich mit jedem Schritt zugleich öffne und wieder abschließe (vgl. Siegel, 2012), denn obwohl man mit jedem Schritt etwas mehr über das vorherige Bild erfahren hat, ist man schon im Unwissen darüber, was der Schritt zum nächsten Bild aufdecken wird. Ähnlich beschreibt SIEGEL auch die Logik des Coming-Out, in dem auf er die Unklarheit der Situation nach dem öffentlichen Preisgeben der eigenen Homosexualität verweist.
SEDGEWICK beschreibt diesen Umstand folgendermaßen: "Every encounter with a new classful of students, to say nothing of a new boss, social worker, loan officer, landlord, doctor, erects new closets whose fraught and characteristic laws of optics and physics exact from at least gay people new surveys, new calculations, new draughts and requisitions of secrecy or disclosure. Even an out gay person deals daily with interlocutors about whom she doesn’t know whether they know or not(…)“1 (Sedgewick, 1990, S.68).
So wird in 'Things are queer' offenbar auf unterschiedlichen Ebenen das Thema des Coming-Out behandelt und dies auf solch subtile Art und Weise, dass es beim ersten Betrachten zunächst nicht offenbart wird.
„I don’t do my work for a kind of immortality, a record. I do it as a way to understand my experience – always for myself.“ (Duane MICHALS)
Duane MICHALS behauptet in einem Interview mit Tara MURTHA, dass er in seiner Fotokunst einen Weg gesucht hat, seine eigenen Ideen auszudrücken (vgl. Murtha, 2008). Geht man von FOUCAULTs These aus, dass es keine autonomen Subjekte gebe, müsse man diese Aussage MiICHALS‘ zunächst in Frage stellen und darauf hinweisen, dass auch seine Ideen einer bestimmten diskursiven Ordnung zugrunde liegen.
Seit den 1970er Jahren, also im gleichen Zeitraum wie die Veröffentlichung von 'Things are queer', haben ForscherInnen begonnen Coming-Out-Prozesse als wissenschaftliches Thema zu untersuchen (vgl. Wolf, 2008).
Der Begriff des Coming-Out als ein Öffentlich-Machen der eigenen schwulen oder lesbischen Identität hat sich Ende der 1960er Jahre etabliert (vgl. ebd.). Zwar gab es schon zuvor Männer, die Männer liebten und Frauen, die Frauen liebten, aber das Coming-Out als politischer Akt zur Abgrenzung gegen die Heterosexualität und -normativität ist erst in diesem Zeitraum aufgetreten (vgl. Wolf, 2008). In diesen Forschungen wurde das Coming-Out als prozesshaft beschrieben (vgl. ebd.). Das Coming-Out umfasst demnach den gesamten Bereich vom ersten Bemerken eines Begehrens des gleichen Geschlechts bis zum Öffentlich-Machen der eigenen Homosexualität und dem Ausleben dieser sozio-sexuellen Identität (vgl. ebd.).
Es wurde hier deutlich als prozesshaftes, nicht-lineares Geschehen beschrieben, in dessen Verlauf sich die entsprechenden Personen immer wieder für oder gegen ein offenes Ausleben oder ein Geheimhalten der eigenen Homosexualität entscheiden müssen (vgl. ebd.).
Diese Thematik ist mit dem zirkulären Aufbau in Duane MICHALS‘ 'Things are queer' zu vergleichen, der zwar eine Linearität zunächst vermuten lässt, im letzten Bild jedoch zugleich wieder am Anfang der Fotosequenz angelangt ist, demnach also eine Art Schleife oder Kreislauf darstellt. Diese Darstellung stimmt daher mit den Aussagen der Forschungen zum Coming-Out überein, die von Judith BUTLER aufgegriffen wurden. Sie beschreibt das Coming-Out als ein sich ständig wiederholender Akt, durch den Irritationen der Geschlechter-Identitäten sichtbar werden, da mit jedem Bekenntnis zur Homosexualität andere Begehrensformen ausgeschlossen werden.
Der Titel 'Things are queer' könnte sowohl als persönliches Coming-Out, also als Bekenntnis zur eigenen Homosexualität, oder als Kritik an der Heteronormativität verstanden werden. Der Wechsel der Schauplätze in der Serie, vom Badezimmer zum Schaufenster, vom Schaufenster zum Inneren eines Buches, vom Inneren eines Buches zu einem Tunnel, von einem Tunnel zu einer Fotografie und damit wieder in das Innere des Badezimmer könnte den vorher beschriebenen Prozess des Coming-Out als immer wiederkehrende Entscheidung für ein Geheimhalten oder Öffentlich-Machen der eigenen Sexualität darstellen.
Das Badezimmer und das Innere des Buches könnten dabei auf das Geheimhalten und gleichzeitig die Innerlichkeit einer Person hinweisen, das Schaufenster und das Bild wiederum symbolisieren wohlmöglich ein Öffentlich-Machen oder zur Schau stellen.
Geht man von Judith BUTLERs These aus, dass Geschlecht sich performativ aus kulturellen Praktiken ergebe und offen für neue Eingriffe und neue Bedeutungen sei, könne man Kunstwerke wie 'Things are queer' als möglichen Beitrag zu einer Verschiebung von Bedeutungen begreifen, zum Beispiel auch durch das Offenlegen eines in der Gesellschaft verdrängten homosexuellen Begehrens. Insgesamt werfen die beschriebenen Ähnlichkeiten zwischen Kunstwerk und wissenschaftlichem Diskurs die Frage auf, ob MICHALS von dem besagten Diskurs Anfang der 1970er Jahre beeinflusst war, als er 'Things are queer' erarbeitete, ob umgekehrt der wissenschaftliche Diskurs von gesellschaftlichen und künstlerischen Themen beeinflusst war oder aber, ob beides in Wechselwirkung zueinander erfolgte. Die letzte Möglichkeit erscheint hierbei am wahrscheinlichsten." (aus: FOTOGRAFIE UND GENDER: DUANE MICHALS „THINGS ARE QUEER“, 14. März 2016, Quelle: https://kulturundmedien.wordpress.com/2016/03/14/fotografie-und-gender-duane-michals-things-are-queer/)
Dort verwendete Literatur:
Dank, Barry M. (1971): Coming-Out in the Gay World. In: Psychiatry. Vol.34. May 1971. unter: http://www.williamapercy.com/wiki/images/Coming_out_in_the_gay_world.pdf (Stand: 09.07.2013)
Ehmke, Jochen (2003): Duane Michals – Fotograf des Imaginären. In: Maria Nühlen (Hrsg.). Die Geister, die ich rief... - vom Merseburger Zauber-Geist bis zu den Google-Geistern des Internets. Merseburger Ringvorlesungen Bd.4. Merseburg: Fachhochschule Merseburg Prerektorat für Studium und Lehre. S.62-64
Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Berlin: Suhrkamp
Foucault, Michel (1982): Denken, Fühlen. In: Michel Foucault. Schriften zur Medientheorie. Bernhard J. Dotzler (Hrsg.) Berlin: Suhrkamp. S.108-116
Murtha, Tara (2008): Equality Forum. Photographer Duane Michals discusses his gay-themed work. in: Philadelphia Weekly. 30.4.2008. unter:http://www.philadelphiaweekly.com/news-and-opinion/38467469.htmlpage=2&comments=1&showAll (Stand: 13.07.2013)
Reiche, Ruth (2013): Die seltsame Schleife als (Bild-)Erzählform – Paradoxe Zirkularität in Duane Michals Things are queer und David Lynchs Lost Highway. In: Bild Wissen Technik/Die Grenzen der Narration im Bild. Kunsttexte.de 1/2013. unter: http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2013-1/reiche-ruth-6/PDF/reiche.pdf (Stand: 08.07.2013)
Segdewick, Eve K. (1990): Epistemology of the closet. Berkly und Los Angeles: University of California Press
Siegel, Steffen (2013): Ironie der Reihenfolge. Enthüllung als Einhüllung bei Duane Michals. In: Susanne Regener, Katrin Köppert (Hrsg.): Privat/öffentlich. Mediale Selbstentwürfe von Homosexualität. Wien: Turia und Kant Verlag. S.131-154
Wolf, Gisela (2008): Entwicklungsprozesse homosexueller Identitäten. unter: http://www.vlsp.de/system/files/Entwicklung-homo-Identitaet_0.pdf (Stand: 14.07.2013)
- Format
- Softcover (no dust jacket, as issued), approx. 22 x 22 x 0,5 cm., 24 pp., 9 b/w ills., 100 gr., no text, details in German