"Boris MIKHAILOV zeigt die Menschen nackt. Selbst wenn er das schon immer nackte Gesicht fokussiert.
Wie bei den rund 500 Laiendarstellern aus Braunschweig, die als Sprecher-Chor in Claudia Bosses Theaterformen-Produktion 'Die Perser' auftraten.
Zusammen mit dem Fotografen Sascha Weidner begleitete Boris MIKHAILOV das Projekt... (das hier nun als Buchpublikation vorliegt).
MIKHAILOV zeigt die Menschen nackt, doch er stellt sie nicht bloß. Obwohl die Grenze haarfein ist wie auch bei den Aufnahmen von den Braunschweiger Chormitgliedern, die MIKHAILOV ausschließlich im Profil fotografiert hat. Ihr Kinn ist mal zu kurz und mal zu lang, bestimmt aber immer genauso wenig richtig proportioniert wie die Nase, die beim einen schief steht, beim anderen zu flach ist und bei der dritten allzu mächtig aufragt.
Der aus der Ukraine stammende Fotograf Boris MIKHAILOV (*1938) spielt mit diesem Konzept über Bande. Denn anders als in der visuellen Darstellung des Menschen in den Massenmedien, in der die Darstellung im Profil heutzutage nur eine marginale Rolle spielt, kommt dem Profil eines Menschen in der gesellschaftlichen Kommunikation tatsächlich eine zentrale Rolle zu. Nicht umsonst spricht man von einem "Profil", wenn man sich bewirbt, im Internet darstellt, oder über die Aktivitäten eines Unternehmens spricht.
Das weiß MIKHAILOV. Und auch, dass er gleich zweifach irritiert – sowohl visuell als auch politisch. Denn in seiner Serie zeigt er so etwas wie die Rohform, aus der die charakterlichen und körperlichen Tugendprofile in unserer heutigen, durch-ökonomisierten Welt geschmiedet werden. Und dieses rohe Material bietet ein ganz anderes Bild als die idealisierten und geschönten Formen, die uns im wahrsten Sinne des Wortes verkauft werden.
MIKHAILOV lässt eben auch den Kaiser in seinen neuen Kleidern nackt dastehen. Mit seinem Konzept hält er einer wettbewerbsorientierten Welt den Spiegel vor. Er entlarvt ihr Profil als reines Marketingprodukt, als exakt nach ökonomischen Vorgaben hingedrehtes, geschöntes und standardisiertes Bild – als letztlich absolut profilloses Profil.
Kein Wunder, dass eine aktuell Maxime der Kommunikationsanforderung 'Get real!' lautet. Ja, wir entkommen der Welt nicht mehr, die wir mit einem Geschäftssinn geprägt haben, von dem wir heute wissen, dass er unsere Geschäfte ruinieren musste, so phantastisch, märchenhaft und damit betrügerisch er argumentiert. Und nun, wo wir diesen Geschäftsgeist nicht mehr loswerden, hätten wir es gerne solider, plausibler – realer, das heißt sachdienlicher. Doch wie soll eine Gesellschaft, deren Wachstumspotential nur noch im Wettbewerb um immaterielle Ressourcen zu erkennen ist, in der es ausschließlich um Interpretationshegemonien und um die Codierung von Symbolsystemen geht, nicht realitätsfremd werden? Hallo! Get real! Zeig Profil!
So wie es MIKHAILOVs Braunschweiger Bürger taten. Dabei entstammt ihr Porträt einer theatralischen, durchweg inszenierten Wirklichkeit. Was aber macht dann das ebenso unpersönlich-stereotype wie gleichzeitig absolut individuelle Bild, das MIKHAILOV von jedem Laiendarstellers gewann, so wirklich, so real? Warum erkennen wir auf den Bildern Persönlichkeiten statt Komparsen eines Konzeptkunstwerks?
Real ist, so möchte man sagen, die Art und Weise in der sich Mikhailov der Aufgabe stellte, sich künstlerisch, gesellschaftspolitisch und persönlich mit dieser umfangreichen Gruppe ganz unterschiedlicher Leute ins Verhältnis setzen zu müssen. Real ist, wie er die Herausforderung annahm, künstlerisch das Porträt der vielgestaltigen Einheit der Gruppe zu entwickeln, in dem der Einzelne nicht Statist, sondern Protagonist ist. Freilich nicht als Solitär, sondern gewissermaßen als 'Solidär', als solidarisches Mitglied des Ensembles und des ganzen Theater- und Kunstprojekts.
Real ist, dass MIKHAILOV um die Zumutung des Foto-Shootings wusste und daher gleich noch eine Serie aufnahm, in der er sich über sich selbst und die künstliche Situation, die er schuf, lustig macht. Dann sieht man, wie sich Sascha Weidner als sein Alter Ego beim Fotografien in nicht weniger seltsamen Verrenkungen windet als die Chormitglieder beim Fotografiertwerden.
Real ist die zweckdienliche, sachliche Haltung, die sämtliche Inszenierungen MIKHAILOVs, seiner abgründigen Spielchen und seiner ebenso phantastischen wie irreführenden Montagen bestimmt." (© Brigitte Werneburg, in: Die nackte Wahrheit: Boris Mikhailovs inszenierter Realismus' (o.J.), Quelle: https://db-artmag.de/de/54/feature/boris-mikhailovs-inszenierter-realismus/)
Wie bei den rund 500 Laiendarstellern aus Braunschweig, die als Sprecher-Chor in Claudia Bosses Theaterformen-Produktion 'Die Perser' auftraten.
Zusammen mit dem Fotografen Sascha Weidner begleitete Boris MIKHAILOV das Projekt... (das hier nun als Buchpublikation vorliegt).
MIKHAILOV zeigt die Menschen nackt, doch er stellt sie nicht bloß. Obwohl die Grenze haarfein ist wie auch bei den Aufnahmen von den Braunschweiger Chormitgliedern, die MIKHAILOV ausschließlich im Profil fotografiert hat. Ihr Kinn ist mal zu kurz und mal zu lang, bestimmt aber immer genauso wenig richtig proportioniert wie die Nase, die beim einen schief steht, beim anderen zu flach ist und bei der dritten allzu mächtig aufragt.
Der aus der Ukraine stammende Fotograf Boris MIKHAILOV (*1938) spielt mit diesem Konzept über Bande. Denn anders als in der visuellen Darstellung des Menschen in den Massenmedien, in der die Darstellung im Profil heutzutage nur eine marginale Rolle spielt, kommt dem Profil eines Menschen in der gesellschaftlichen Kommunikation tatsächlich eine zentrale Rolle zu. Nicht umsonst spricht man von einem "Profil", wenn man sich bewirbt, im Internet darstellt, oder über die Aktivitäten eines Unternehmens spricht.
Das weiß MIKHAILOV. Und auch, dass er gleich zweifach irritiert – sowohl visuell als auch politisch. Denn in seiner Serie zeigt er so etwas wie die Rohform, aus der die charakterlichen und körperlichen Tugendprofile in unserer heutigen, durch-ökonomisierten Welt geschmiedet werden. Und dieses rohe Material bietet ein ganz anderes Bild als die idealisierten und geschönten Formen, die uns im wahrsten Sinne des Wortes verkauft werden.
MIKHAILOV lässt eben auch den Kaiser in seinen neuen Kleidern nackt dastehen. Mit seinem Konzept hält er einer wettbewerbsorientierten Welt den Spiegel vor. Er entlarvt ihr Profil als reines Marketingprodukt, als exakt nach ökonomischen Vorgaben hingedrehtes, geschöntes und standardisiertes Bild – als letztlich absolut profilloses Profil.
Kein Wunder, dass eine aktuell Maxime der Kommunikationsanforderung 'Get real!' lautet. Ja, wir entkommen der Welt nicht mehr, die wir mit einem Geschäftssinn geprägt haben, von dem wir heute wissen, dass er unsere Geschäfte ruinieren musste, so phantastisch, märchenhaft und damit betrügerisch er argumentiert. Und nun, wo wir diesen Geschäftsgeist nicht mehr loswerden, hätten wir es gerne solider, plausibler – realer, das heißt sachdienlicher. Doch wie soll eine Gesellschaft, deren Wachstumspotential nur noch im Wettbewerb um immaterielle Ressourcen zu erkennen ist, in der es ausschließlich um Interpretationshegemonien und um die Codierung von Symbolsystemen geht, nicht realitätsfremd werden? Hallo! Get real! Zeig Profil!
So wie es MIKHAILOVs Braunschweiger Bürger taten. Dabei entstammt ihr Porträt einer theatralischen, durchweg inszenierten Wirklichkeit. Was aber macht dann das ebenso unpersönlich-stereotype wie gleichzeitig absolut individuelle Bild, das MIKHAILOV von jedem Laiendarstellers gewann, so wirklich, so real? Warum erkennen wir auf den Bildern Persönlichkeiten statt Komparsen eines Konzeptkunstwerks?
Real ist, so möchte man sagen, die Art und Weise in der sich Mikhailov der Aufgabe stellte, sich künstlerisch, gesellschaftspolitisch und persönlich mit dieser umfangreichen Gruppe ganz unterschiedlicher Leute ins Verhältnis setzen zu müssen. Real ist, wie er die Herausforderung annahm, künstlerisch das Porträt der vielgestaltigen Einheit der Gruppe zu entwickeln, in dem der Einzelne nicht Statist, sondern Protagonist ist. Freilich nicht als Solitär, sondern gewissermaßen als 'Solidär', als solidarisches Mitglied des Ensembles und des ganzen Theater- und Kunstprojekts.
Real ist, dass MIKHAILOV um die Zumutung des Foto-Shootings wusste und daher gleich noch eine Serie aufnahm, in der er sich über sich selbst und die künstliche Situation, die er schuf, lustig macht. Dann sieht man, wie sich Sascha Weidner als sein Alter Ego beim Fotografien in nicht weniger seltsamen Verrenkungen windet als die Chormitglieder beim Fotografiertwerden.
Real ist die zweckdienliche, sachliche Haltung, die sämtliche Inszenierungen MIKHAILOVs, seiner abgründigen Spielchen und seiner ebenso phantastischen wie irreführenden Montagen bestimmt." (© Brigitte Werneburg, in: Die nackte Wahrheit: Boris Mikhailovs inszenierter Realismus' (o.J.), Quelle: https://db-artmag.de/de/54/feature/boris-mikhailovs-inszenierter-realismus/)
- Format
- HC (no dust jacket, as issued), 25 x 34,5 x 3 cm., 272 pp., highly illustrated, text language: English