ALS SIGNIERTES EXEMPLAR!
Hintergrundinformation als Buchbesprechung, Inhalt
"'Keine Experimente' - so lautete der Wahlkampfslogan der CDU in der Bundestagswahl 1957, die der Partei ihr Spitzenergebnis von 50,2 % bescherte - Adenauer wurde im Amt bestätigt. Dirk ASLVERMANN (1937-2013) wählte den Slogan für sein 1961 im (Ost-Berliner Eulenspiegel-Verlag (statt, wie ursprünglich geplant, bei Bärmeier & Nikel in Frankfurt) erschienenes zweites Fotobuch. Trotz der hohen Auflage von 10000 Stück ist es heute selten (was auch für fast alle anderen Fotobücher Alvermanns gilt).
Kaum größer als ein Taschenbuch, erhielt der Band einen festen Einband. Das verwendete Papier ist nicht von höchster Güte und zeigt Vergilbungserscheinungen. Die Druckqualität unter Berücksichtigung des verwendeten Papiers ziemlich gut, wenn sich auch der Autor heute damit nicht mehr zufrieden zeigt.
Inhalt
Die Bilderzusammenstellung des vergriffenen Fotobandes 'Keine Experimente' von Dirk ALVERMANN zeigt überwiegend in Berlin und im Rheinland entstandene Aufnahmen aus den Jahren 1956-61 und folgt den Paragraphen 1 bis 9 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949.
Der Fotograf stimmt die Leser mit einer sehr deutlich gegen Militarismus und Nationalsozialismus gerichteten Passage aus dem Abkommen der 'Drei-Mächte-Konferenz' in Jalta (2. August 1945) auf sein Thema ein. Dann geht es weiter mit der Präambel des Grundgesetzes, der Bilder und weitere Abschnitte aus dem Gesetzestext folgen. Diese Texte sind immer negativ gesetzt, also weiß in schwarz. Auf der letzten, einer völlig schwarzen Seite gegenüberliegenden weißen Seite wird das Buch nach dem Hinweis, das die Artikel 10 bis 145 folgen, mit dem Artikel 146 beschlossen: 'Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.' Punkt, aus, Ende. Die Bilder füllen entweder Einzel- oder Doppelseiten ohne Ränder und ohne Bildunterschriften aus. Wenn ein neuer Abschnitt aus dem Gesetz zitiert wird, gibt es auch Gegenüberstellungen aus den weiß-in-schwarzen Textseiten und einem Bild oder gar kleine Bildfenster innerhalb der Textseiten. So am Ende der Präambel, wo man eine SS-Rune zu sehen bekommt, die dann auf der übernächsten Seite, bei Artikel 1, in etwas weiterem Ausschnitt zum Wort SCHIESSEN gehörend gezeigt wird. Dirk ALVERMANN wiederholt das Motiv nochmals bei Artikel 1, Absatz 3; dieses Mal als ganzseitiges Bild: Es handelt sich um das Schild einer Schießbude, vor der sich eine Familie mit Kleinkind aufgebaut hat. Das SS ist auf allen drei Seiten im Buch in gleicher Größe und auf gleicher Position zu sehen, eine Art Zoomen vom Detail auf das Ganze - ganz so, wie sich bei genauerer Betrachtung die Spuren der braunen Vergangenheit in der Gesellschaft noch deutlich manifestierten wie in der Typographie des Schießbudenschildes.
Eingeschoben hatte Dirk ALVERMANN ein Doppelportrait eines lächelnden Schutzpolizisten und einer (für den Karneval maskierten) Hexe Arm in Arm; Bilder und Bildmontage als kritischer Kommentar zu den sorglosen Läufen des Wirtschaftswunders. Wenige Seiten später sieht man einen kleinen Jungen, der vor einem Antiquitätengeschäft steht, in dessen Schaufenster Löffel, Heiligenfiguren und anderer Nippes feilgeboten werden. Der Junge hat die Augen leicht zugekniffen, weil ihn die Sonne blendet. Daher ist nicht genau zu erkennen, ob er lächelt oder weint, jedenfalls hat er sich eine Spielzeugpistole an die Schläfe gesetzt, als ob er sich damit gleich selbst erschießen wollte. Unwillkürlich denkt man an das berühmte, 1962 entstandene Bild eines Jungen mit der Spielzeughandgranate in der Hand von Diane ARBUS, Dirk ALVERMANN jedoch übersteigert die ohnehin schon bedenkliche Situation durch die Heiligen im Hintergrund weiter ins Groteske. Das Bild steht zwischen den Texten des Artikel 2, Abs. 1 und 2, die die Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die körperliche Unversehrtheit garantieren. Und in diesem Stil geht es weiter. In Artikel 3 geht es um die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz; kommentiert wird das durch eine Doppelseite eines als Neandertaler verkleideten Mannes mit bloßem Oberkörper und wildem Haar- und Bartwuchs, der halb misstrauisch, halb belustigt von einem Schupo beäugt wird. Der Neandertaler wirkt wie eine Präfiguration eines Hippies, wie sie wenige Jahre später die kritische Aufmerksamkeit der Spießbürger finden sollten. Artikel 5 spricht von der Freiheit, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild zu äußern. Der Footgraf zeigt eine ältere Frau, die mit verschatteten Augen vor einer Hauswand steht und mehrere Boulevard-Zeitungen in der Hand hält. 'Unerfahrenheit mit dem Leben bezahlt' liest man auf einer Überschrift zu einem Artikel, in dem es um Mord und Totschlag geht. Unglaublich, was im Rahmen der Pressefreiheit alles passieren kann.
Ganz nebenbei gelang Dirk ALVERMANN mit dieser Footgrafie eine dezente Hommage an die Reflexion von Paul STRAND über das Sehen, seine Inkunabel 'Blind' aus dem Jahre 1917. Der offene Mund eines feisten Wohlstandsbürgers kommentiert in engem Ausschnitt den Artikel 8 (Versammlungsfreiheit) und, einige Seiten später und in viel weiterem Ausschnitt, der den Blick auf den Oberkörper des vor einem CDU-Plakat stehenden Mannes freigibt, auch den Artikel 9, Abs. 3. Das letzte Foto im Buch zeigt das gleiche Wahlplakat in einem anderen Ausschnitt, rechts daneben schaut ein Polizist zum Fotografen: 'Was du hast, weißt du darum' …CDU wäre zu ergänzen, Besitzstandswahrung unter den Augen der Polizei sozusagen, ein programmatisches Bild für die politische Haltung des bei Erscheinen des Buches gerade 24-jährigen Dirk ALVERMANN, der kurz zuvor noch als engagierter Berichterstatter in Algerien war. Die Bilder sind für sich immer schon sehenswert; durch ihre Abfolge und die Kombination mit den Grundgesetztextes entsteht ein Spannungsbogen, der bis zum Ende durchgehalten wird. Kontrastierende Gegenüberstellungen, Rückblenden, Wiederholungen, raffinierte Ausschnitte, also die gesamte Montage des Buches zeigt, dass Dirk ALVERMANN - wie schon bei seinem Erstling über Algerien - an eine Art Film zwischen Buchdeckeln im Kopf hatte, als sich an die Arbeit an den Bildern zum Grundgesetz machte. Das im Jahr des Mauerbaus erschienene Buch aus dem Eulenspiegel-Verlag war als Satire gedacht, worauf auch die Karikatur auf der Rückseite des Einbands hindeutet. Nicht jede satirische Wendung offenbart sich heute noch auf den ersten Blick, weil nicht mehr alle politischen Tagesereignisse so präsent sind, wie er sie empfunden haben mag.
Dass das Buch 'Keine Experimente' eine halb kritische, halb spöttische Haltung zur Wirtschaftswunder-Zeit und den Verlockungen des Konsums transportiert, erschließt sich auch ohne Detailkenntnis der Zeit." (leicht angepasster Text, © Thomas WIEGAND, in: 'Dirk Alvermann, Keine Experimente - Fotobücher 'neu gelesen', Folge 2 (Artikel Nr.40 auf fotokritik.de)
Über den Fotografen Dirk ALVERMANN (1937-2013)
Fotobücher von Dirk ALVERMANN
- Format
- HC (no dusttjacket, as issued), 14 x 20 x 1 cm., 136 pp., b/w ills., German text only