Hintergrundinformation
"Menschen, die nicht hier wohnen, wollen es meist nicht glauben, aber der Berliner Winter dauert sechs bis acht Monate. Wir stecken gerade wieder mitten drin. Die Sonne geht nur auf, um kurz darauf wieder unterzugehen, oder sie wird wochenlang gar nicht gesehen. Die Gesichter der Stadtbewohner nehmen während dieser Wintermonate die Farbe von Rohbeton an.
Noch viel grauer als heute war es nur im Berlin der 1970er und 80er Jahre, und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westteil der Stadt. Das beweisen die Fotografien des Michael SCHMIDT, 1945 in Berlin geboren, 2014 ebenda gestorben. Der Mann mit dem so wunderbar durchschnittlichen Namen war der Großmeister der Grautöne.
Zunächst verdiente er sein Geld als Polizist, bekam dann aber eines Tages eine Kamera in die Hände. Das Fotografieren wurde diesem Autodidakten schnell zur Berufung. Michael SCHMIDT lief sein Revier und seine Nachbarschaft von nun an mit dem Fotoapparat ab. Bei der Entwicklung seiner Fotos verzichtete er auf das ganze Programm der damals unter Fotografen beliebten Mittel zu Atmosphärenverstärkung, drehte nicht nur die Farben, sondern auch die harten Kontraste, das helle Weiß und das dunkle Schwarz, heraus. Michael SCHMIDT porträtierte seine Stadt so realistisch und zugleich so subjektiv wie nur möglich, ob er nun eine langhaarige Sozialarbeiterin in ihrem Büro oder aber eine menschenleere Straßenecke mit einer Würstchenbude in Berlin-Wedding in den Sucher nahm.
Das Werk von Michael SCHMIDT wurde schon einige Male gezeigt, etwa im New Yorker Museum of Modern Art oder im Haus der Kunst in München. Von diesem Wochenende an zeigen nun gleich drei parallele Ausstellungen im Sprengel Museum Hannover, in dem Museum Folkwang in Essen und der auf Fotografie spezialisierten Ausstellungshalle C/O Berlin, wie breit, vielstimmig und international vernetzt auch jene Fotografie-Bewegung war, die Michael SCHMIDT in den 70er Jahren mitbegründete. Eine Bewegung, die ihren Ausgang in der Volkshochschule Kreuzberg nahm, in der heute fast vollständig vergessenen Werkstatt für Photographie.
Die Einladung zu dieser Werkstatt hatte er 1976 mit der Schreibmaschine auf eine Din-A4-Seite getippt. Amateure und Profis sollten sich hier selbst bilden, alle von allen lernen: 'Egal, ob es um Ihre Urlaubs-Dias geht oder um die Fotografie als Mittel zur Verwirklichung Ihrer Persönlichkeit'. Schon 1969 hatte Michael SCHMIDT begonnen, Kurse für Fotografie zu geben, das Bezirksamt Kreuzberg förderte dann auch seine Arbeit für das 1973 publizierte Fotobuch Berlin-Kreuzberg: Es sind Bestandsaufnahmen eines teilnehmenden Ethnologen in einem noch lange nicht von Immobilieninvestoren entdeckten Viertel.
1975 wurden seine Fotografien auch erstmals wie Kunstwerke ausgestellt, in der Berliner Galerie Springer. Der Erfolg ermutigte SCHMIDT, den Polizei-Dienst zu verlassen und sich seinem pädagogischen Auftrag zu widmen: Zusammen mit ehemaligen Schülern unterrichtet er werktags zwischen 18 und 21 Uhr nach einem ausgeklügelten Kurssystem.
Keine der Berliner Hochschulen oder Akademien bot damals ein Fotografie-Studium an. Zu Schmidts Mitstreitern gehörten Dozenten wie Ulrich GÖRLICH und Wilmar KOENIG, die ebenfalls als Quereinsteiger zur Fotografie gefunden hatten. Nicht das Medium sei das Wichtigste, sondern die Persönlichkeit des Fotografierenden, der ganz eigene Blick, die Ehrlichkeit. Danach wolle man suchen, ohne aber ins 'Psychologisieren' abzugleiten, schrieb Michael SCHMIDT.
Bei dieser Suche sollten auch die Ausstellungen und Vorträge bewunderter Fotografen aus den USA helfen. Wilmar KOENIG, der die Leitung der Werkstatt 1977 von SCHMIDT übernahm, reiste in die USA, lernte dort auch Larry CLARK, den schonungslosen Porträtisten der Junkie-Jugend, kennen und lud ihn nach Kreuzberg ein.
1978 veranstaltete man in Zusammenarbeit mit der auf Fotografie spezialisierten Galerie Kicken und dem Amerika-Haus, in dessen Bau heute C/O Berlin residiert, eine Gruppenausstellung mit Bildern von Lewis BALTZ und Stephen SHORE.
Die Bilder hingen in einfachen Rahmen an Strippen, in Räumen, die mit ihren Büropflanzen und ihrem Plastikboden eben das Flair von Volkshochschulen in der BRD verströmten – und selbst ein prima Motiv für diese Forscher des Alltags abgaben.
Auch William EGGLESTON, Larry FINK, Lee FRIEDLANDER und Robert FRANK, all die angesagten Vertreter der Autorenfotografie, kamen in den Jahren bis zum Ende der Werkstatt 1986 nach Kreuzberg, um Vorträge zu halten und zu lehren.
Die Fotos dieser Vorbilder aus den USA sind jetzt auch wieder in Berlin zu sehen, die Entdeckung der drei parallelen Museumsausstellungen in Hannover, Berlin und Essen sind allerdings die Werke der Mitstreiter Michael SCHMIDTs, die heute weitaus weniger bekannt sind: die Selbstporträts und Körperbilder von Ursula KELM und Ulrich GÖRLICH etwa oder die mit Unschärfen spielenden und dabei eine starke Unmittelbarkeit erzeugenden Farbaufnahmen von Volker HEINZE, Gosbert ADLER und Joachim BROHM. Diese künstlerisch-dokumentarische Fotografie ist es, die heutige Kollegen neu fasziniert.
Einige dieser Bilder seien richtige 'Sleeper', sagt Thomas Weski, der zusammen mit Felix Hoffmann die Berliner Ausstellung kuratierte, und er hat recht.
Auf den ersten Blick mögen manche der Aufnahmen noch unscheinbar wirken. Doch sind es gerade die grauen Bilder aus dem Berlin der Vor-Wendezeit, die heute, nach einigen Jahren und Jahrzehnten des Ruhens, eine neue, besondere Anziehungskraft ausüben. Man muss sich all die Brachen, all die ungeschminkten Gesichter immer wieder von Neuem anschauen." (© Tobias TIMM, in: 'Das schöne Grau', ZEIT Nr. 51 vom 8.12.2016)
Zu dieser Ausstellung ist auch ein Katalog erschienen, 'Werkstatt für Photographie 1976-1986', der bei Cafe Lehmitz Photobooks erhältlich ist.
Über den Fotografen, Michael SCHMIDT (1945-2014)
Fotobücher von und zu Michael SCHMIDT
- Hrsg./Autor(en)
- Erika Bräuel
- Buchgestaltung
- Günter PILARSKI
- Format
- Broschierte Ausgabe ohne Schutzumschlag (wie erschienen), 21 x 20,5 x 1,5 cm., 122 S., 113 S/W-Abb., deutsch-sprachiger Text - GERMAN TEXT ONLY!