Statement des Fotografen, Andreas KREMER
"Tokyo. Mehr als 38 Millionen Menschen drängen sich in der größten Metropolregion der Welt. An jeder Ecke lauert Unbekanntes und Unerwartetes, daran ändern auch wiederholte Besuche nichts. Oder die Erfahrungen aus anderen asiatischen Metropolen. Hong Kong, Singapur oder Bangkok, treffen unsere westeuropäischen Erwartungen um vieles eher, wirken bekannter, weniger überraschend, als Tokyo. Gegensätze bestimmen die Wahrnehmung. Chaos durch Masse, Enge, Lärm und Neon stehen großer Disziplin, Höflichkeit und Harmoniestreben der Menschen gegenüber. Nach einem mehrtägigen Aufenthalt in Tokyo könnte der Schock, der einen nach Rückflug und dem Aussteigen aus einem deutschen Hauptbahnhof ereilt, kaum größer sein. Anrempeln, Pöbeln, Dreck und Verspätungen gehören zu unserem westeuropäischen „Standard“; in Tokyo sorgt das komplette Ausbleiben zunächst für Erstaunen und wird dann gerne versucht zu adaptieren. Da dies nicht final gelingt, fühlt man sich weiterhin als Barbar. Auch an den lautesten Plätzen Tokyos, den 'Pachinkos', Spielhöllen, die die Japaner jeder Altersgruppe gerne frequentieren, gelten Regeln und Ordnung. Daran ändert weder die wirklich unvorstellbare Lautstärke etwas, noch die Tatsache, dass diese oft von den Yakuza, der so genannten japanischen Mafia, geführt werden. In den Shops und Warenhäusern wimmelt es von niedlichen Mangafiguren mit Kulleraugen; diese bedienen nicht selten leicht verändert ein Stockwerk höher Wünsche, die man so noch gar nicht kannte. Die Lust am Verkleiden, auch als Ausdruck des jugendlichen Protests gegen die Gesellschaftskonformität, ist überall zu spüren. Lolita-style oder Cosplay Kostüme sind Bestandteil des alltäglichen Straßenbildes. Anders die wenigen noch aktiven Geishas. Viele Jahre lernen die Maikos, die Geisha-Auszubildenden, ihr traditionelles Unterhaltungshandwerk. Musik, Kunst, Tanz, die perfekte Begleitung für jeden, der es sich an einem besonderen Abend noch leisten kann, ist das Ziel. Sex nicht inbegriffen, anders als es das Hollywood-Image glauben machen will. Weitere vermeintliche Gegensätze durchziehen Japans Gesellschaft. Die Jahrtausende alte, gelebte Tradition geht Hand in Hand mit der Moderne. Zwei bestens integrierte Religionen teilen sich die wesentlichen Ereignisse von Geburt bis Tod. Der große nationale Stolz lässt trotzdem eine ebenso große Gastfreundlichkeit zu. Raumknappheit und Arbeitszeiten der tonangebenden männlichen Bevölkerung sorgen für ein Leben zumeist in der Öffentlichkeit, fast ohne Intimität. In Folge wird die strenge Ordnung durch Ausschweifungen und Exzesse kompensiert. Nach 12-Stunden-Arbeitstagen ist häufig noch lange nicht Schluss; nicht selten sorgen die anschließenden gemeinsamen Biere mit den Kollegen in den so zahlreich wie teilweise klaustrophobisch kleinen Bars oder anderen für Nicht- Japaner oft verschlossenen Etablissements für verpasste, letzte Züge nach Hause. Oder für Schlimmeres. Wie gut, dass es 'Kapselhotels' mit zwei Quadratmeter großen Schlafkojen gibt. Man braucht Nähe und Abstand, um sich dem Phänomen Tokyo fotografisch zu nähern, der Spannung standzuhalten. Es ist ohne Kenntnis vermeintlicher Gegensätze in der Kultur Japans kaum zu verstehen. Wie der Fotograf es William KLEIN ausdrückt: 'Tokyo erfordert Instinkt und Gefühl. Alles muss erst gesehen, nicht interpretiert werden.' Sichtbar ist, dass Kreativität, Fantasie und Ästhetik große Teile der japanischen Kultur ausmachen. Dies alles erfährt man zum Beispiel in jedem guten der 50.000 Tokyoter Restaurants; es gibt nur einen Grund, die Ordnung und Ästhetik einer angerichteten Bentō Box zu zerstören – der Geschmack ist noch grandioser. Wenn Japaner eine Mandarine essen, entfernen sie die Schale in einem Stück und sammeln darin die weiße Haut, damit die Reste ein sauberes, kleines Müllsäckchen ergeben. Welches zuhause entsorgt wird, Sauberkeit funktioniert ganz offensichtlich bestens auch ohne Mülleimer an öffentlichen Plätzen. Ein anderes Beispiel ist 'Kinbaku', die Kunst des Fesselns, ein uralter Bestandteil japanischer Kultur. Kinbaku beeinflusste zum Beispiel das japanische Theater 'Kabuk', das Sumoringen oder den traditionellen Kimono. Als Kunstform ist es Skulptur, Performance und Pas de Deux zugleich. Nobuyoshi ARAKI, dessen fotografisches Oeuvre stark mit dieser Kunst verbunden ist, beschreibt es als „ein Blick in die weibliche Seele“, das Ritual des Fesselns diene ihm als Moment des Festhaltens und sei ein Zeichen von Verehrung, seine Fotos mithin ein 'Altar der Weiblichkeit'. Sex und Erotik spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle, das Verlangen nach Intimität ist entscheidender. Vivian Herman argumentiert in einem Essay, dass Verlangen eine Form von Mangel ist. Verlangen ist „immer etwas, das man nicht hat." Wer könnte die Grenzen von Verlangen besser verstehen als eine Gesellschaft, der wirkliche Intimität oft fehlt? Es geht um Transzendentales und Außergewöhnliches, die Gefesselte fällt nicht selten in einen Trance-Zustand. Nein, nicht wegen mangelnder Luftzufuhr oder ähnlichem, ein Kinbaku-Meister kennt jeden Millimeter des Körpers und ebenso die Auswirkungen der jeweiligen Fesselung. Zum Erfolg der Japaner auf diesem Gebiet trägt auch ihr Streben nach Perfektion selbst im Detail bei, Teil des kodawari-Prinzips. Ob es um das frischeste und beste Sashimi geht, den vollendeten kalligraphischen Pinselstrich oder das Null-Fehler-Dogma in Produktions-abläufen - Einzelpersonen geben immer mindestens 100% für das Kollektiv und schaffen zuweilen das Unmögliche. Fähigkeiten und Tätigkeiten werden über ihren ursprünglichen Zweck hinaus entwickelt; rein rational für die westliche Logik nicht immer erklärbar. Unter anderem mit der berüchtigten Konsequenz der höchsten Selbstmordrate unter allen Industrienationen. Aber eben auch mit einer der weltweit höchsten durchschnittlichen Lebenserwartung und dem größten Anteil der 100-Jährigen, getreu dem ikigai-Prinzip 'das, wofür es sich zu leben lohnt'. Das Spannungsfeld von Individualität und Konformität, Intimität und Öffentlichkeit, Ordnung und Exzess, sowie weitere Gegensätzlichkeiten, die nach westeuropäischem kulturellem Standard ungewöhnlich oder sogar unvereinbar erscheinen, faszinieren mich und sind Nährstoff für dieses Buch. Ich möchte damit motivieren, mit etwas mehr Toleranz und weniger (Vor)urteil dem Unbekannten und Ungewohnten zu begegnen." (© Andreas R. KREMER)
Hintergrundinformation
Das Fotobuch 'Tension' von Andreas KREMER wurde vom deutschen Fotografen selbst gestaltet; er war frei in der Auswahl seiner Fotografien. So betrachtet, ist 'Tension' ein unabhängiges, selbst verlegtes Werk, das er mit Unterstützung des etablierten Verlags auf den Weg gebracht hat.
Inhalt
Andreas KREMER ist mit seinem Fotobuch 'Tension' ein vielschichtiges Portrait Japans gelungen, das eine intensive Betrachtung verdient. Inspiriert durch den berühmten Japanischen Fotografen Daido MORYAMA, von dem ein Zitat vorangestellt ist, setzt sich der Kölner Fotograf mit der Stadt Tokyo und der Lebensweise der Japanischen Städter auseinander.
Über den deutschen Fotografen, Andreas KREMER
Fotobücher von Andreas KREMER
- Hrsg./Autor(en)
- Wolfgang Zurborn
- Buchgestaltung
- KREMER
- Format
- HC (no dust jacket, as issued), 21 x 30 x 2 cm., 168 pp., 128 full paged color ills., text language: English
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